Das ist die Geschichte von Maria Bauer, geboren im Herbst 1955 in einer kleinen Landgemeinde, 40 km von Wien entfernt. Sie besucht die Volks- und Hauptschule in ihrem Heimatort und bewirbt sich 1970 auf eine Lehrstelle als Bürokaufmann* [in den 1970/80er Jahren war dies die offizielle Berufsbezeichnung] in Wien. Nachdem sie erst drei Mal mit ihren Eltern die lange Reise in die große Stadt zu ihrer Tante angetreten ist, begleitet sie ihre Großmutter, damit sie sich ohne Ortskenntnis und ohne Stadtplan nicht verirrt.
Leider bekommt sie die Lehrstelle nicht und sie beginnt die Lehre in einem KfZ-Betrieb in der Nachbargemeinde. Stenographie und Stenotypie, Phonotypie und Durchschreibebuchhaltung stehen auf dem Lehrplan der Berufsschule. Das 10-Fingersystem lernt sie auf der mechanischen Kofferschreibmaschine um ÖS 2.000, welche sich ihre Eltern förmlich „vom Mund abgespart” haben. Die Bestellnummern der Auto-Ersatzteile können in dicken Katalogen oder auf Mikrofiche-Geräten mühsam herausgesucht werden; daher ist es leichter, die 1.000 achtstelligen Nummern auswendig zu beherrschen.
Ende der 70er Jahre wechselt sie in einen großen landwirtschaftlichen Betrieb: die Lohnverrechnung erfolgt für die Arbeiter/innen wöchentlich, berechnet auf einer Rechenmaschine mit Papierstreifen. Die Ziffern werden auf dünne Lohnstreifen händisch übertragen. Die Auszahlung erfolgt persönlich und in bar, da niemand über ein Bankkonto verfügt.
Anfang der 80er Jahre erfüllt sich ihr Traum und sie tritt eine Stelle als Sekretärin in einem großen Unternehmen in Wien an. Die Briefe werden anfangs noch mit einer elektrischen Kugelschreibmaschine nach Diktat geschrieben und von der Führungskraft korrigiert. Später findet ein Umstieg auf WANG-Textautomaten statt. Maria ist sehr lerneifrig und bekommt die Möglichkeit in teuren Kursen bei RANK XEROX “Publishing” zu lernen.
Durch internationale Kundenkontakte gewinnen auch Fremdsprachenkenntnisse immer mehr an Bedeutung. Englisch stellt somit eine neue Herausforderung dar, da das gelernte Schulenglisch bereits in Vergessenheit geraten ist.
Nach ihrem Karrieresprung in die Geschäftsführung ändert sich auch die Berufsbezeichnung: aus dem Bürokaufmann und der Sekretärin wird die Assistentin der Geschäftsführung. RANK XEROX wird durch MS-Windows, PowerPoint, Word und Excel abgelöst. Outlook, Mails, selbständige Organisation, die Kommunikation mit den zugeordneten Führungskräften ihres Geschäftsführers,… werden zum zentralen Arbeitsinhalt. Mit 2010 kommen Controlling, Auswertungen, Geschäftsstatistiken mittels integrierten System zu ihren Aufgaben hinzu.
Die Korrespondenz wird von der Führungskraft selbst erledigt oder mittels Spracheingabe vorbereitet. Maria korrigiert nun die Texte und bereitet selbständig Präsentationen auf – ein Wechsel von der „untergebenen Mitarbeiterin” zur wertvollen Partnerin.
Mit 65 Jahren tritt sie am 1. 1. 2020 ihren wohlverdienten Ruhestand an und übergibt ihren Aufgabenbereich an die 23-jährige Florenta Radu aus Rumänien, die ein Bachelor-Studium „Office Management“ absolviert hat und nach zwei Jahren in der Tochtergesellschaft in Warschau die Stelle als Assistentin der Geschäftsführung in Wien übernimmt. Wien ist durch Smartphone, Google Maps, Internet, mehrere Reisen in Europa, keine fremde Stadt für Florenta. Ihre Familie und Freunde in Rumänien und Polen sind durch Skype und WhatsApp nur „einen Steinwurf entfernt”.
Florenta ist mit der digitalen Welt vertraut. Lernen mittels e-learning, YouTube-Videos, Bestellungen per Apps, eBanking, etc. stellen eine Selbstverständlichkeit dar. Binnen 0,37 Sekunden kann sie jede Information der Welt abrufen und trotzdem ist sie sehr dankbar, dass sie von ihrer Kollegin, Maria Bauer, eingeschult wird und sie von ihrem großen Erfahrungsschatz und ihren vielfältigen Kenntnissen lernen kann.
In einer ruhigen Minute denkt Florenta nach, welch ungeheuren Lernweg Maria von der Durchschreibebuchhaltung und mechanischen Schreibmaschine in die digitale Welt hinter sich hat, und wie für sie selbst – trotz fremden Landes – der Weg über Studium und Austausch geebnet ist.
Wenn wir Talent- und Kompetenzmanagement im Unternehmen aktiv gestalten [wollen], dann muss uns bewusst sein, dass wir auf Mitarbeiter/innen und Führungskräfte treffen, die bereits 1955 geboren sind, 1970 in das Berufsleben eingetreten sind und 2020 regulär in den Ruhestand treten, ebenso wie „digital natives“, die 2005 geboren sind.
Das Talent- und Kompetenzmanagement muss maßgeschneidert und individuell auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Ausgangslagen abgestimmt sein.